«Es fordert uns alle»

Die Multisystemische Therapie (MST) kommt dann ins Spiel, wenn bei Familien nichts mehr geht.

Seit zehn Jahren gibt es die Multisystemische Therapie (MST) in den UPK, ein aufsuchendes Angebot für Familien in Not. Erfahren Sie im Gespräch mit den Teamleitenden Livia Voneschen, Daniela Jordi und Andreas Ritter mehr über ihre Arbeit.

Warum braucht es die MST?
Daniela Jordi: Wir bieten Familien in ihrem Zuhause eine hochintensive Psychotherapie an und schliessen damit in Basel eine wichtige Versorgungslücke zwischen ambulanten und stationären Angeboten.
Livia Voneschen: Mit einer multisystemischen Therapie erreichen wir alle Familienmitglieder in einer oft äusserst belasteten Situation.

Was ist der Kern Ihrer Aufgabe?
Andreas Ritter: Verstehen – Verändern – Stabilisieren. Wir unterteilen in drei Phasen: Zuerst liegt unser Fokus in der genauen und strukturierten Erfassung von systemischen Zusammenhängen in der Familie und den «guten Gründen» für die Schwierigkeiten. Es folgt eine Therapiephase, die sich Schritt für Schritt den gemeinsam definierten Behandlungszielen annähert. In der Abschlussphase geht es schliesslich um die Stabilisierung und Generalisierung der positiven Veränderung.
Livia Voneschen: Dazu gehört auch, dass wir gemeinsam über weitere Hilfen sprechen, die eine Familie nach der Therapie bei uns in Anspruch nehmen kann. Die MST hat ja eine Behandlungsdauer von höchstens neun Monaten.

Warum neun Monate?
Livia Voneschen: Die MST ist seit vielen Jahren erforscht und es hat sich gezeigt, dass diese Behandlungsdauer optimal ist. Bei einer kürzeren Therapiezeit ist es nicht möglich, der Komplexität in der Therapie ausreichend Aufmerksamkeit zu schenken und Veränderungen wirklich gut zu implementieren. Bei einer längeren Behandlungszeit mit dieser hohen Intensität wird in der Regel nicht mehr wesentlich viel verändert und die Ermüdung aller Beteiligten und eine möglich Abhängigkeit vom Therapeuten sind negative Aspekte, die vermieden werden sollten. Dann sind andere Formen der Unterstützung mit einer geringeren Intensität wie zum Beispiel die sozialpädagogische Familienbegleitung oder ambulante Therapien sinnvoller und zielführender. Die Übergabe erfolgt nach Möglichkeit bei Abschluss der MST noch gemeinsam mit der Familie.

Wann schalten Sie sich ein?
Daniela Jordi: Wenn das Wohlbefinden und die Entwicklung von Kindern gefährdet sind und mit einfacheren, weniger intensiven Angeboten der Familie zuvor nicht geholfen werden konnte. Dazu stehen wir in engem Kontakt mit dem Kinder- und Jugenddienst Basel (KJD). Dieser prüft die Indikation und übernimmt auch einen wesentlichen Teil der Finanzierung.

Sie, Livia Voneschen, haben in einem früheren Interview gesagt, dass die MST oft erst ins Spiel kommt, wenn das Haus schon brennt. Ist es dann nicht zu spät?
Livia Voneschen: Oft ist es wirklich schon sehr spät. Dann geht es natürlich erst einmal darum, den «Brand» gemeinsam mit der Familie zu löschen, beispielsweise mit der Erarbeitung von Sicherheitsplänen. Hier sind wir sehr eng mit den Familien in Kontakt und begleiten sie intensiv, praktisch rund um die Uhr. Erst dann können wir den Fokus darauf legen zu verstehen, wie das Haus überhaupt in Brand geraten ist, welche Dynamiken im Spiel sind – und die Familie dazu befähigen, ihr Haus vor weiteren Bränden zu schützen. Im Idealfall können bereits Reparaturarbeiten vorgenommen werden.

Haben – zugespitzt formuliert – die Eltern versagt, wenn die MST zum Einsatz kommt?
Andreas Ritter: Das ist ein sehr sensibler und emotionaler Aspekt, mit dem manche Eltern offener, andere versteckter umgehen. Schuld und Scham sind sehr starke und unangenehme Emotionen.
Daniela Jordi: Wir wollen möglichst wenig werten und allen wohlwollend entgegentreten. Unser Ziel ist es, den Familienmitgliedern zu helfen, Bezüge zur eigenen Geschichte herzustellen und eigene Anteile zu erkennen.
Livia Voneschen: Eltern möchten in aller Regel das Beste für ihre Kinder. Viele Eltern tragen jedoch oft eine sehr schwierige Lebensgeschichte als «Rucksack» mit sich. Und das müssen sie zuerst verarbeiten, bevor sie das Hier und Jetzt mit ihren Gedanken, Emotionen und ihrem Verhalten positiv beeinflussen können. Dazu bieten wir, falls nötig, auch intensive Traumatherapien an.

Wie viele Familien betreuen Sie zurzeit?
Livia Voneschen: Aktuell sind bei uns 21 Familien in Therapie.

Im schlimmsten Fall droht den Familien eine Fremdplatzierung ihrer Kinder. Was ist da vorgefallen?
Daniela Jordi: Eine Fremdplatzierung würde ich grundsätzlich nicht als schlimmsten Fall einordnen. Sehr schwierig wird es nämlich immer dann, wenn in der Zusammenarbeit mit den Familiensystemen keine notwendigen Veränderungen erzielt werden können – und es nicht gelingt, die Entwicklungsgefährdung der Kinder zu reduzieren.
Andreas Ritter: Eine gut organisierte und passende Fremdplatzierung kann für Familien sehr gut verlaufen, insbesondere wenn die Themen Scham und Schuld gut bearbeitet wurden und die Eltern nicht in einer Ambivalenz verharren, welche es den Kindern nicht gut erlaubt, im Heim oder bei einer Pflegefamilie anzukommen und zu bleiben. In manchen Fällen kann eine gelungene Fremdplatzierung sogar dazu beitragen, dass sich die Eltern-Kind-Beziehung entspannt und sich das Verhältnis verbessert. 

Gibt es Situationen, in denen Sie schlicht machtlos sind, wenn Eltern zum Beispiel nicht einsichtig sind?
Livia Voneschen: Ja, wenn es Eltern trotz unserer Bemühungen nicht gelingt, sich auf die Therapie einzulassen, dann sind auch wir machtlos und können nichts bewirken. Das sind Momente, die auch uns ans Herz gehen.

Haben Sie auch schon Situationen erlebt, in denen alles komplett aus den Fugen geraten ist, Sie bedroht wurden – oder gar die Polizei eingeschaltet werden musste?
Daniela Jordi: Solche Momente gibt es, sie sind aber zum Glück sehr selten. Dann ist es unheimlich wichtig, sich unter den Helfern rasch zu verständigen, um gemeinsam notwendige Entscheidungen zu treffen. Es ist auch immer wichtig, ein tragfähiges Team im Hintergrund zu haben, mit dem man einen Teil der Last teilen kann.

Die MST der UPK ist beispielhaft in der Schweiz. Warum ist dieses Angebot nicht mehr verbreitet?
Andreas Ritter: Gute Frage! Viele wünschen sich zwar eine MST, aber bei der Finanzierung und der Einbettung in die bestehenden Strukturen hapert es dann oft. Die UPK haben in Zusammenarbeit mit dem Kanton Basel-Stadt diesen Schritt vor zehn Jahren gewagt und nun ein sehr erfolgreiches therapeutisches Angebot für Basel geschaffen, das Familien in Notlagen erreichen kann.

Arbeiten Sie mit weiteren Institutionen zusammen?
Livia Voneschen: Neben dem Kinder- und Jugenddienst (KJD) als Zuweiser und Wegbegleiter arbeiten wir mit vielen anderen Institutionen sehr enger zusammen. MST bedeutet ja multisystemisch, das heisst, wir gehen überall dorthin wo sich die Familien aufhalten, etwa in die Schulen, Kindergärten, Kitas, zu Kinderärzten, Psychotherapeuten, sozialpädagogischen Familienhilfen, zum Schulpsychologischen Dienst oder zum RAV.

Gibt es Dinge, die sich in Ihrer Arbeit in den letzten zehn Jahren wesentlich verändert haben?
Daniela Jordi: Die grössten Anpassungen mussten wir während «Corona» vornehmen. Und auch wenn diese Zeit schon fast wieder vergessen scheint, sind ein paar Veränderungen geblieben.
Andreas Ritter: Aus verschiedensten Gründen hat es die Familien, die schon vor der Pandemie Schwierigkeiten hatten, besonders stark getroffen. Und noch immer sind die Kinder und Jugendlichen stärker psychisch belastet. Das fordert nicht nur uns im Rahmen der MST, sondern uns alle in der Gesellschaft.

Am 27. September 2024 findet auf dem UPK-Campus die Fachtagung «10 Jahre MST in Basel» statt. Nebst Vorträgen erwarten Teilnehmende verschiedene Workshops zu den Inhalten von MST. Es hat für interessierte Fachpersonen noch wenige Plätze frei. Informationen und Anmeldungen via Flyer «10 Jahre MST in Basel» oder direkt online.

 

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