«Weniger Zwang, mehr Beziehung»

Die UPK praktizieren seit mehr als zehn Jahren das Konzept der Open Doors. Was ist darunter zu verstehen – und wie kommt es an? Dazu Christian Huber* im UPK-«Brennpunkt».

In der Vergangenheit wurden Zwangsmassnahmen angewandt, um Menschen wegzusperren, die nicht den jeweiligen gesellschaftlichen Erwartungen entsprachen. Oft veranlasst von Nachbarn, Familien oder Autoritätspersonen. Wie ist das heute?
Christian Huber: Der Psychiatrie kommt seit jeher ein Doppelmandat zu. Sie muss für das Wohlergehen ihrer Patientinnen und Patienten sorgen, aber auch den Schutz von Dritten bieten. Das ist ihr gesellschaftlicher Auftrag. Dabei kann es zu Konstellationen kommen, in denen Zwangsmassnahmen angewandt werden. Man spricht auch von «wohlwollendem Zwang» oder «beneficial coercion». Im Verlauf der Psychiatriegeschichte hat sich jedoch vieles verändert, in meinen Augen klar zum Positiven. Heute verfügen wir über therapeutische Möglichkeiten, so dass wir in Situationen, in denen früher das Sichern und Verwahren im Vordergrund stand, erfolgreich und ohne Zwang behandeln können.

Patientinnen oder Patienten sind heute vor einem willkürlichen «Wegsperren» geschützt?
Das sind sie. In Basel-Stadt kennen wir die Regelung, dass nur Ärztinnen und Ärzte aus der Abteilung Sozialmedizin des Gesundheitsdepartements fürsorgerische Unterbringungen (FU) verfügen dürfen, was eine gute fachliche Beurteilung sicherstellt und zu relativ niedrigen Raten an FU führt. Nachbarn oder Familien können nicht selbst eine FU erwirken.

Was genau gilt als Zwangsmassnahme?
Es gibt verschiedene. Zum einen sind das Sicherheitsmassnahmen, die dem Schutz dienen und selbst keinen therapeutischen Charakter haben, in der Regel bei akuter Selbst- und/oder Fremdgefährdung. Dazu gehören die Aufnahme auf eine geschlossene Abteilung, das Festhalten, die mechanische Fixierung oder die Isolation in einem geschützten Raum. Dann gibt es die Behandlung ohne Zustimmung der Patientin oder des Patienten, deren Ziel es ist, zur Gesundung der Patienten beizutragen. Diese Zwangsmassnahme wird durch eine leitende Ärztin oder einen leitenden Arzt schriftlich angeordnet und die Patientin oder der Patient kann sich juristisch zur Wehr setzen. Und schliesslich gibt es den informellen Zwang. Hier wird die Patientin oder der Patient unter Druck gesetzt, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Auch das ist eine Zwangsmassnahme, nur ist sie schwerer zu fassen. Wir als Klinik versuchen, informellen Zwang möglichst zu vermeiden, weil die Patientinnen und Patienten keine Rechtsmittel einlegen können.

Gibt es kulturelle Unterschiede?
Sicher. Es gibt auch eine historische und kulturelle Weiterentwicklung. Heute und in der Schweiz ist das Bewusstsein für Persönlichkeitsrechte und Selbstbestimmung bei Menschen mit psychischen Erkrankungen gross. Die Gesellschaft ist gegenüber Psychiatrie aufgeschlossener, besser informiert – und Menschen, die psychiatrische Hilfe benötigen, werden weniger stigmatisiert. Das alles hilft, bei den möglichen negativen Seiten von Zwangsmassnahmen genauer hinzuschauen.

Auf was genau bezieht sich das Konzept der Open Doors?
Wörtlich verstanden geht es darum, ohne dauerhaft geschlossen geführte Abteilungen auszukommen. Denn man weiss heute, dass sie viele gesundheitliche Nachteile für Patientinnen und Patienten haben – übrigens auch für Mitarbeitende. Andererseits bestehen berechtigte Zweifel, ob die Schutzfunktion, für die Zwangsmassnahmen eigentlich gedacht sind, auch wirklich erfüllt werden kann. Beim Open Doors-Konzept handelt sich um ein ganzes Bündel an Massnahmen, um mehr Autonomie für die Patientinnen und Patienten, einen besseren Umgang mit Krisensituationen und ein besseres Therapieangebot zu fördern und so insgesamt mit weniger Zwangsmassnahmen auszukommen. Eine Psychiatrie mit weniger Zwang, dafür mit einer stärkeren Beziehung zur Patientin oder zum Patienten.

Seit wann gibt es dieses Konzept?
Entwickelt hat sich der Gedanke in der «No Restraint-Bewegung», der Forderung zum vollständigen Verzicht auf mechanische Fixierung. Deren Beginn wird den Engländern Robert Gardiner Hill und John Conolly zugeschrieben. Eine ihrer ersten Publikationen dazu datiert auf 1856. Seinen eigentlichen Ursprung hat das Konzept jedoch schon in den Bemühungen um einen philantropischen, therapeutischen Fokus in der Psychiatrie von Abraham Joly: Er war Arzt und lebte von 1748 bis 1812 in Genf. Auch Philippe Pinel war prägend, ein Psychiater, der praktisch zur selben Zeit wie Joly in Paris lebte und praktizierte. Es ist also schon ein verhältnismässig alter, aber dennoch weiter hochaktueller Gedanke. Er ist nicht einfach zu realisieren, es bedarf kontinuierlicher Anstrengung, um ihn zu erhalten, und er ist immer wieder durch übersteigertes Sicherheitsdenken gefährdet.

Was sind die Vor- und Nachteile?
Wir wissen, dass offen geführte Abteilungen und ein Fokus auf Beziehung und Behandlung zu besseren Behandlungsergebnissen führen. Sie vermeiden die negativen Auswirkungen von Zwangsmassnahmen – zum Beispiel die Re-Traumatisierung von vulnerablen Patientinnen und Patienten. Sie führen auch zu einer besseren therapeutischen Atmosphäre, einem besseren Stationsklima. Eine Herausforderung bleibt es, mit Patientinnen und Patienten ohne Krankheitsgefühl, die aber dennoch dringend Behandlung bedürfen, zu einem gemeinsamen Behandlungsplan zu kommen. Auch gibt es im Vorfeld einer Abteilungsöffnung oft Bedenken, dass gefährdete Patientinnen und Patienten sich aus der Klinik entfernen könnten oder dass sich Drittpersonen zu leicht Zugang zur Abteilung verschaffen könnten.

Haben Sie Vergleichsmöglichkeiten zu anderen Kliniken?
Wir sind als Klinik gut vernetzt mit anderen Schweizerischen Spitälern, die ebenfalls eine Open-Door-Policy eingeführt haben oder das planen. Gleichzeitig gibt uns ein nationales Qualitätsmonitoring einen sehr guten Überblick über die Häufigkeit und Entwicklung von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie. Im Quervergleich stehen die UPK Basel sehr gut da, wobei es durch die COVID-Pandemie zwischenzeitlich bei manchen Patientengruppen über alle Kliniken in der Schweiz hinweg einen Anstieg gegeben hat.

Wie schätzen Sie die gesellschaftliche Akzeptanz ein?
Am Anfang des Projekts an den UPK gab es schon einige Bedenken ausserhalb der Klinik. Mit unseren Begleituntersuchungen konnten wir jedoch zeigen, dass sich die Zweifel nicht bewahrheitet haben. Heute schätze ich die gesellschaftliche Akzeptanz als sehr gut ein.

Die UPK führten das Konzept vor mehr als zehn Jahren ein. Warum?
Es gab mehrere Gründe dafür. Zum einen gab es ein klinisches Konzept mit geschlossenen Aufnahmeabteilungen für die Akutbehandlung. Von hier aus wurden die Patientinnen oder Patienten dann auf andere Abteilungen zur Weiterbehandlung und später nochmals zur Rehabilitation verlegt. Mit den geschlossenen Abteilungen, den systembedingten Verlegungen, Beziehungsabbrüchen und den nicht optimalen, teilweise nicht diagnosespezifischen Behandlungskonzepten wurde dieses Vorgehen aber als nicht mehr zeitgemäss erlebt. Zum anderen wollte man den Anteil an Zwangsmassnahmen nachhaltig senken, der als zu hoch empfunden wurde. Und unsere Klinikdirektorin, Prof. Undine Lang, brachte das Konzept aus Berlin mit und war eine grosse Fürsprecherin.

Was braucht es von Seiten einer Klinik, um ein Open-Door-Konzept anbieten zu können?
Das Einführen dieses Konzepts kann nur in einer gemeinsamen Bemühung aller Berufsgruppen und aller Mitarbeitenden möglich gemacht werden. Es braucht den Aufbau einer entsprechenden therapeutischen Haltung, das Erarbeiten der notwendigen Konzepte, das Erlernen von optimaler Prävention und Krisenintervention. Ist dies einmal gelungen, braucht es die Bemühung, das alles aufrecht zu erhalten und über Personenwechsel hinweg weiterzuführen. Gleichzeitig braucht es die fortwährende Unterstützung aus der Klinikleitung, um für das Konzept einzustehen und zu verhindern, dass übertriebenes Sicherheitsdenken die Entwicklungen wieder gefährdet. Ohne jede und jeden Einzelne(n) wäre es nicht möglich, dieses Konzept umzusetzen.

Das Konzept stellt auch einen Paradigmenwechsel dar. Was ist für Sie Zukunftsmusik?
Schweizweit kam es in den letzten Jahren zu mehr Zwangsmassnahmen. Das zeigt, wie wichtig es ist, ein gesellschaftliches Bewusstsein für dieses Problem zu schaffen und einen besseren, präventiven und therapeutischen Zugang bei Selbst- und Fremdgefährdung in der Psychiatrie zu schaffen. Neben dem formellen Zwang sollten wir uns bemühen, auch möglichst wenig von informellem Zwang Gebrauch zu machen. Damit verbunden ist ein Eintreten für weniger Ausgrenzung und Stigmatisierung und für mehr Empowerment der Betroffenen. Am besten gelingt das, indem man sie in Planungen und Entscheide, aber auch in die Begleitforschung miteinbezieht. Wenn wir auf diesen Gebieten Fortschritte erzielen, können wir als Gesellschaft und Psychiatrien für die Patientinnen und Patienten viel Gutes bewirken.

*Prof. Christian Huber hat in Regensburg und München Humanmedizin und Philosophie studiert. Nach Abschluss seiner Facharztausbildung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf kam er 2013 an die UPK, wo er als Chefarzt und stellvertretender Klinikdirektor für das Zentrum für Psychotische Erkrankungen (ZPE) verantwortlich ist. Er leitet die Arbeitsgruppe für Psychiatrische Versorgungsforschung am Departement für Klinische Forschung, Fakultät für Medizin, und ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Basel sowie Fakultätsmitglied an der Swiss School of Public Health.
Christian Huber erhielt für seine federführende wissenschaftliche und klinische Tätigkeit zu dieser Vorgehensweise bei den UPK unter anderem 2022 den «Inger Salling Preis». In der damaligen Laudatio wurden die Reduktion von Zwangsmassnahmen und die Öffnung der Psychiatrie als «hochrelevante Forschungsanliegen» gewürdigt. 

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