«Vulnerable Gruppen sind für uns zentral»

Wie könnte sich eine Unterversorgung auf Menschen mit psychischen Krankheiten auswirken? Psychosespezialist Dr. Julian Möller im UPK-«Brennpunkt».

Schon vor der Pandemie war die Situation um die medizinische Versorgung in der Schweiz ein brennendes Thema. Und heute? Ist es fünf vor zwölf – oder bereits fünf nach?
Julian Möller: Die Schweiz hat ein qualitativ sehr hochwertiges Gesundheitssystem und steht im internationalen Vergleich, auch im Vergleich zu unseren Nachbarländern, sehr gut da. Dieses hohe Niveau schliesst auch die psychotherapeutisch-psychiatrische Versorgung mit ein. Das möchte ich festhalten.
Allerdings gibt es auch bei uns Versorgungslücken. Das hängt mit vielen Faktoren zusammen, wie zum Bespiel für unsere Region dem «Versorgungsplanungsbericht 2022 – Gemeinsame Gesundheitsregion – Psychiatrische Versorgung» zu entnehmen ist. Es ist nicht fünf vor oder nach zwölf, aber es besteht ein dringender Handlungsbedarf, für alle Akteure. Dabei muss es das Ziel sein, bestehende oder drohende Versorgungslücken zu schliessen. Alle Menschen, die Unterstützung benötigen und sich eine solche wünschen, sollten diese auch rechtzeitig erhalten.

In einem kürzlich von der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) veröffentlichten Bericht gaben mehr als 60 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte auf den Gebieten Psychiatrie und Psychotherapie an, teilweise keine oder gar keine Patientinnen und Patienten mehr aufzunehmen.
Das ist ein wichtiger Punkt. Er betrifft übrigens mindestens in gleichem Ausmass die psychologische Psychotherapie. Für viele Menschen mit psychischen Krisen ist es heute schwierig, rasch einen Zugang zu einer ambulanten psychotherapeutischen beziehungsweise psychiatrischen Behandlung zu finden. Die Tatsache, dass der überwiegende Teil der befragten Psychiaterinnen und Psychiater angaben, teilweise oder gar keine neuen Patientinnen und Patienten mehr aufnehmen zu können, verdeutlicht die Dringlichkeit des Problems.

Welche Handlungsempfehlungen wurden für die Region Basel abgeleitet?
Wichtig ist: Es müssen überall alle Akteure miteinbezogen werden. Hier in der Region Basel etwa wir als Klinik, die Politik, Behandlungsnetzwerke, Forschung und Ausbildung. Als UPK haben wir den Auftrag, auf bestehende Versorgungslücken in der Region zu reagieren. Das machen wir. Ein gutes Beispiel dafür ist die soeben eröffnete Frühinterventionstagesklinik FIT. Oder der Aufbau unseres Home Treatments, um ein weiteres Beispiel zu nennen.
Zentral für uns ist dabei die Unterstützung vulnerabler Gruppen, für die der Zugang zu ambulanter Psychotherapie oft besonders schwierig ist. Hierzu gehören Menschen mit Psychosen. Aktuell bauen wir übrigens unser ambulantes psychotherapeutisches Angebot für Menschen mit Psychosen weiter aus. Ein weiteres Angebot ist aktuell in Planung.

Sie arbeiten auf dem Gebiet der Psychosebehandlung. Wie wirksam ist eine Psychotherapie für Menschen mit Psychosen?
Es besteht heute ein wissenschaftlicher und klinischer Konsens darüber, dass evidenzbasierte Psychotherapie für Menschen mit Psychosen sehr wirksam ist und Betroffenen in jeder Phase ihrer Erkrankung angeboten werden sollte. Also unabhängig davon, ob sie sich in einer akuten Krise befinden – in der sie beispielsweise sicher sind, verfolgt zu werden – oder ob sie eine medikamentöse Begleitbehandlung wünschen. Eine leitliniengerechte Psychotherapie sollte für Betroffene also jederzeit zugänglich sein.

Nehmen Menschen mit Psychosen eine Psychotherapie überhaupt an, wenn sie ihnen angeboten wird?
Es kommt darauf an, wie das psychotherapeutische Angebot ausgestaltet ist. Bereits der erste Kontakt und die folgenden Therapiegespräche sollten innerhalb der Wahrnehmung der Betroffenen formuliert werden und sich an ihren subjektiv bedeutsamen Lebens- und Therapiezielen ausrichten. Eine inhaltliche Konfrontation bezüglich der Wahninhalte sollte dabei vermieden werden, denn eine solche würde in der Akutphase bei Betroffenen eher zu Irritationen oder Ängsten führen, ohne dabei die wahnhaften Überzeugungen zu verändern. Wenn diese Aspekte erfüllt sind, nehmen Menschen mit Psychosen Psychotherapieangebote in der Regel an, auch dann, wenn sie in dieser Phase kein Krankheitsgefühl oder keine Krankheitseinsicht erleben können. Dies ist durch wissenschaftliche Studien gut belegt und deckt sich mit unserer klinischen Erfahrung.

Wie alt ist eine Psychosepatientin oder ein Psychosepatient, der zu Ihnen kommt?
Psychosen können bei Menschen grundsätzlich über die gesamte Lebensspanne vorkommen. Deshalb bieten wir spezialisierte Behandlungsangebote an, die vom Jugendalter bis in den Altersbereich reichen. Wichtig ist: Viele Menschen erleben eine Psychose nur einmalig oder in bestimmten Lebensphasen. Eine psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung trägt zur Genesung bei und dazu, dass Betroffene in ihrem Leben wieder das machen können, was ihnen wichtig ist.

Menschen mit einer Psychose brauchen eine rasche und umfassende Unterstützung. Welche Folgen könnten Versorgungsengpässe für sie haben?
Angst ist für jeden Menschen ein schwer auszuhaltendes Gefühl. Bei manchen Menschen nimmt Angst in einer Psychose ein überwältigendes Ausmass an, was zu starker Verunsicherung führen kann. Engpässe in der Versorgung bedeuten also, dass Menschen in einer besonders vulnerablen Lebensphase Hilfe vorenthalten wird oder sie diese Hilfe verspätet erhalten. Hilfe, die aus klinischer Sicht aber dringend und unmittelbar indiziert wäre. Dies kann aus Sicht der Betroffenen, Behandelnden und Angehörigen natürlich sehr gravierend sein.

Wie wirkt sich das alles auf die Familien der Betroffenen aus?
Angehörige erleben oft eine schwere Belastung. Sie sorgen sich und fühlen sich oft hilflos. Die Distanz, die sich zu einem geliebten Menschen während einer psychotischen Episode auftun kann, ist häufig für Angehörige sehr verunsichernd. Auch hier kann eine externe Hilfe wichtig sein.

Und für die Gesellschaft?
Für die Gesellschaft bergen Versorgungslücken ebenfalls Risiken. Eine nicht rechtzeitige Behandlung psychotischer Episoden kann nicht nur zu persönlichen, sondern auch zu wirtschaftlichen Belastungen führen. Obwohl die Bereitstellung evidenzbasierter Psychotherapie und allgemein einer psychiatrischen Behandlung zunächst mit Kosten verbunden ist, sind die mittel- und langfristigen Kosten eines Verzichts auf eine solche Versorgung signifikant höher.

Wo sehen Sie dringenden Bedarf?
Wenn Menschen in Basel im Rahmen einer akuten Psychose eine umfassende Unterstützung benötigen, sind wir als UPK gut aufgestellt. Wir können Betroffene jederzeit in eine stationäre oder teilstationäre Behandlung aufnehmen und bieten ihnen auf spezialisierten Abteilungen eine patientenzentrierte, evidenzbasierte Behandlung nach modernen Konzepten.
Für den ambulanten Bedarf haben wir Angebote wie die Psychoseambulanz, das Home Treatment und das «Basel Early Treatment Service (BEATS)» – unsere Ambulanz für Früherkennung und -behandlung. Wir verfügen über Behandlungsteams und spezialisierte Strukturen, die gezielt auf die Bedürfnisse von Menschen mit Psychosen abgestimmt sind.
Dennoch ist es für Menschen mit Psychosen oft herausfordernd, einen ambulanten Psychotherapieplatz zu erhalten. Viele ambulant tätige Kolleginnen und Kollegen bieten psychotherapeutische Behandlungen für Menschen mit Psychosen nur selten an, insbesondere bei Schizophrenie-Spektrum-Störungen. Und auch unsere Ambulanz hat beschränkte Kapazitäten. In einer vor kurzem von uns veröffentlichten Studie haben wir aufgezeigt, dass auch in Basel nur wenige Menschen mit einer Schizophrenie-Spektrum-Störung tatsächlich eine ambulante Psychotherapie erhalten, obwohl sich diese als wirksam erwiesen hat.

Was wäre zu tun?
Es gibt unterschiedliche Ansätze. Zum Beispiel bei der Ausbildung: Damit wir als Fachpersonen eine evidenzbasierte Psychotherapie für Menschen mit Psychosen anbieten können, ist eine spezifische Qualifizierung empfohlen. Diese wird in der psychotherapeutischen Grundausbildung aber oft nicht ausreichend vermittelt. Und ein Mangel an spezialisierter Ausbildung kann wiederum dazu führen, dass die Bereitschaft fehlt, diese Therapien im ambulanten Setting anzubieten. Eine verbesserte Qualifizierung – sei es bereits in der psychotherapeutischen Grundausbildung, durch postgraduale Spezialisierungen oder während der praktischen Arbeit in spezialisierten Kliniken –  könnte die Verfügbarkeit und die Qualität von Psychotherapieangeboten für Menschen mit Psychosen erhöhen.
Auch eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen verschiedenen ambulant tätigen Fachpersonen könnte ebenfalls einen wichtigen Beitrag leisten. Regionale und nationale Behandlungsnetzwerke stellen hierfür eine gute Möglichkeit dar.

Und aus politischer Perspektive?
Ich kann natürlich nicht für die Politik reden – aber es gibt Modelle und Ideen, die beispielsweise bestimmte finanzielle Anreize in der Vergütung von Fachpersonen beinhalten. Welche Richtung die Politik einschlagen wird, wird sich zeigen.

Gibt es Lichtblicke am Horizont?
Ja, definitiv! Einen möchte ich hervorheben: Die UPK bieten in Zusammenarbeit mit dem PSP Basel, der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, der Psychiatrie Baselland und der Akademie für Psychische Gesundheit einen neuen, postgradualen Studiengang** an. Die einjährige Fortbildung «Psychotherapie bei Psychosen» ist der erste Studiengang in der Schweiz, der eine spezifische Qualifizierung für die Psychotherapie bei Psychosen ermöglicht. Wir konnten für diesen Studiengang Expertinnen und Experten als Dozierende gewinnen, die den Bereich der Psychotherapie der Psychosen massgeblich prägen. Die nächste Kohorte wird bereits im Mai 2025 hier in Basel starten und bietet die Möglichkeit für Fachpersonen, sich spezifisch und vertieft in der Psychotherapie bei Psychosen zu qualifizieren.

*Dr. Julian Möller, Leitender Psychologe des Zentrums für psychotische Erkrankungen der UPK Basel. Er engagiert sich für Menschen mit Psychosen in Klinik, Lehre und Forschung; **Studiengang unter der Co-Leitung von Prof. Christian Huber, Chefarzt und stellvertretender Direktor der Klinik für Erwachsene (UPKE), Prof. Philipp Sterzer, Chefarzt am Zentrum für Diagnostik und Krisenintervention und Professor für Translationale Psychiatrie, und Julian Möller; «Versorgungsplanungsbericht 2022 – Gemeinsame Gesundheitsregion – Psychiatrische Versorgung».

 

Notfallkontakt

Erwachsene:

Zentrale Aufnahme und Notfall Psychiatrie (24h täglich)
Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel
Wilhelm Klein-Str. 27, Basel
Standort
Tel. +41 61 325 51 00

Walk-In Ambulanz
Kornhausgasse 7, Basel
Montag bis Freitag,
8 – 16 Uhr
Standort
Tel. +41 61 325 81 81

Privatpatienten

Wilhelm Klein-Strasse 27, Basel
Standort
Tel. +41 61 325 52 08
Bei Notfällen ausserhalb der Öffnungszeiten:
Patientenaufnahme und Notfallpsychiatrie
+41 61 325 51 00

Lageplan Defibrillatoren und Notfallkoffer

Hier gelangen Sie zum Plan.

Kinder und Jugendliche:

Poliklinik
Kornhausgasse 7, Basel
Montag bis Freitag,
8 – 12 Uhr und 13 – 17 Uhr
Standort
Tel. +41 61 325 82 00

Bei Notfällen ausserhalb der Öffnungszeiten (24h täglich):
Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)
Spitalstrasse 33, Basel
Standort
Tel. +41 61 704 12 12