«Verwahrung ist der soziale Tod»

Er ist Bergführer, Gleitschirmpilot und ein weitherum geachteter forensischer Psychiater: Prof. Marc Graf. Jetzt sagt er nach 27 Jahren den UPK Basel Adieu*. Blicken Sie mit Marc Graf zurück – und erfahren Sie, was ihn antreibt, und in welchen Momenten der sonst trittsichere Bündner auch mal ins Stolpern geraten kann. 

Was macht ein Gutachter, eine Gutachterin?
Marc Graf:
Als Gutachterin und Gutachter ist man die so genannte «sachverständige Person und bringt für ein rechtsstaatliches Verfahren vor Gericht oder bei einer Behörde den notwendigen «Sachverstand» ein. Wir kommen dann jeweils ins Spiel, wenn die Behörde oder das Gericht nicht selber über diesen Sachverstand verfügt. Das ist vergleichbar mit der Aviatik, wenn bei einem Flugzeugabsturz Expertinnen und Experten hinzugezogen werden.

Nicht selten ist die Kritik zu hören, dass Täter besser geschützt seien als Opfer.
Die Strafverfolgung dient einzig dem Zweck, Opfer zu schützen. Sei es präventiv durch Abschreckung, oder sei es durch «Normverdeutlichung» (also wer Straftaten begeht, wird bestraft) wie etwa Wegsperren oder Behandeln von Tätern. Darüber hinaus haben wir in der Schweiz ein sehr gutes Opferschutzgesetz: Die Strafverfolgungsbehörden müssen Opfer bei Opferhilfestellen melden. Ob ein Opfer dann die Unterstützung in Anspruch nehmen will, entscheidet es selber. Die Kritik, dass sich ein Opfer ungenügend wahrgenommen und versorgt fühlt, kann ich gut nachvollziehen. Denn den Tätern kommt häufig eine sehr starke mediale Aufmerksamkeit zu.

Braucht es Mut, ein für den Täter positives Gutachten auszustellen?
Ja. Und es braucht Vertrauen in die eigene Arbeit, weil eine Täterin oder ein Täter dann wahrscheinlich entlassen wird. Das geht nur mit sorgfältiger Abwägung und wissenschaftlich gut abgestützt. Zudem muss man Unsicherheiten, die sich aus der Fachliteratur oder der klinischen Erfahrung ergeben, klar benennen.

Sie sind Therapeut, arbeiten auch therapeutisch mit Straftätern zusammen. Haben Sie auch schon Wut gegenüber einem Täter verspürt?
Ja, klar. Wir arbeiten mit Extremformen psychischer Störungen, die sich natürlich auch in einer therapeutischen Beziehung zeigen. Insbesondere Narzissten, Dissoziale und Psychopathen lotsen Grenzen aus, überschreiten diese und erstreben vermeintliche «Macht» auch in einem therapeutischen Setting. Unser Vorteil ist: Wir wissen das und sind im Idealfall darauf vorbereitet. Das gelingt natürlich nicht immer, und dann kann schon auch Enttäuschung oder Wut aufkommen.

Als Gutachter geben Sie den Gerichten eine Entscheidungsgrundlage, um über die Strafe eines Täters zu befinden. Das kann auch Verwahrung bedeuten. Wie gehen Sie mit dieser Verantwortung um?
Die Verwahrung eines Täters ist für mich jedes Mal belastend und ich wäre ein schlechter Gutachter, hätte ich nicht immer (!) auch Zweifel. Die Verantwortung ist enorm gross, weil es bei einer Fehlbeurteilung entweder neue Opfer geben kann oder ein Mensch zu Unrecht wegsperrt wird. Beides ist schlimm.

Warum belastend?
Als Psychiater bin ich grundsätzlich als Therapeut sozialisiert und eine Verwahrung bedeutet Resignation: der Täter kann nicht oder nicht ausreichend therapiert werden. Das ist jedes Mal so, wie einen Menschen aufzugeben. Und weil die meisten der Verwahrten nicht mehr zu ihren Lebzeiten entlassen werden, empfinde ich dies manchmal wie eine Todesstrafe für sie, es ist ihr sozialer Tod. Aber es ist richtig und wichtig, dass wir dieses Instrument zum Schutz der Gesellschaft vor gefährlichen Tätern haben.

Die «NZZ am Sonntag» titelte 2017 «Im Zweifel gegen den Verwahrten». Der Bericht handelte von Hanspeter Zablonier, einem Mann, der seine Freundin schwer misshandelte und verwahrt worden ist. Vom ersten Gutachten an sei alles «verkachelt» gewesen, auch der Gutachter kam in die Kritik. Was denken Sie, wenn Sie solche Berichte lesen?
An unsere vielfältigen Bemühungen, mit Lehre und Forschung den Prozess der Begutachtung kritisch zu beleuchten und zu verbessern. Zum Beispiel bilden wir mit unserem neuen CAS «Psychiatrisch-psychologische Begutachtung im Strafrecht» an der Universität Basel Gutachterinnen und Gutachter aus.

Mit welchen Straftaten muss sich eine Forensikerin oder ein Forensiker auseinandersetzen?
Das ändert sich mit der Erfahrung. Zu Beginn einer Laufbahn sind das alle Arten von Straftaten. Mit der Zeit macht man sich einen Namen für anspruchsvolle und komplexe Fälle. Wobei die fachlich komplexen Fälle nicht immer diejenigen mit grosser medialer Aufmerksamkeit sind – zum Glück.

97 Prozent der Taten werden von Männern begangen. Es gibt auch wenige Täterinnen, welches sind «ihre» Straftaten? 
Frauenspezifisch ist die Kindstötung, die wir immer wieder begutachten.

Wie gehen Sie damit um, wenn ein Täter keine Reue zeigt?
Wie bei allen Problemen: ich stelle Hypothesen auf und frage nach dem «Weshalb». Es gibt sehr viele Gründe, etwa zu leugnen. Wir kennen das auch von uns selber. Einige Täter leugnen aus Scham oder weil sie in ihren eigenen Moralvorstellungen mit dieser Schuld eigentlich gar nicht weiterleben dürften und sich konsequenterweise das Leben nehmen müssten. Das habe ich leider schon oft erlebt: Ein Suizid, um sich der eigenen Schuld zu entziehen, nicht dem Verfahren.

Zur Pädophilie haben Sie gesagt: «Man sucht sich das nicht aus, aber man ist verantwortlich dafür, wie man damit umgeht». Hier sind Sie Mitinitiant von «Kein Täter werden Schweiz»**. Warum?
Ein sexueller Missbrauch richtet bei einem Menschen oft Katastrophales an und beeinflusst die Persönlichkeitsentwicklung stark: Viele Opfer können kein wirklich selbstbestimmtes Leben mit genügend inneren Freiheitsgraden mehr führen – und nicht wenige (männliche Opfer) werden selber zu Tätern. Ich habe auch Mitleid mit Männern, die sich zu Kindern hingezogen fühlen. Stellen Sie sich vor: Das, was Sie als erotisch begehren, ist moralisch verpönt und wird strafrechtlich verfolgt. Eine schwierige und traurige Vorstellung!

Waren Sie rückblickend auf Ihre Zeit als klinischer Forensiker immer trittsicher unterwegs – oder gab es Momente, in denen Sie ins Stolpern gerieten?
Die ersten (vielen) Jahre waren ein dauerndes Stolpern! Wir, und damit meine ich unser gesamtes Team in der Begutachtung und in der Therapie, taumelten oft mehr vorwärts, als dass wir uns tritt- und zielsicher fortbewegt hätten. In den letzten 20 Jahren ist in Sachen wissenschaftlicher Überprüfung aber viel gelaufen und wir sind von der Eminenz weggekommen, also dem Expertenwissen. Heute geht es um wissenschaftliche Evidenz.

Weg also von Halbgöttern in Weiss?
Wir müssen unsere rechtsstaatliche und vom Gesetz her eng definierte Rolle als Sachverständige einhalten und die Gerichte in deren Entscheiden beraten. Wir stellen dem Gericht unser Expertenwissen zur Verfügung und sind nicht die, die es besser wissen. Das ist ein grosser Unterschied.

*/** Lesen Sie die Medienmitteilung «Marc Graf beendet klinische Karriere» und die News «Wir bekommen jede Woche mehrere Anrufe».

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