«Die rasche Entwicklung fordert uns alle»

Gambling, Gaming, Pornografie-, Chemsex- und Kaufsucht gehören zu den Verhaltenssüchten – und werden von einem professionellen Team an den UPK therapiert. Dr. Martin Meyer*, Oberarzt am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen gibt im «Brennpunkt» Einblicke.

Martin Meyer, wann kommen Menschen mit einer Verhaltenssucht zu Ihnen?
Menschen kommen dann zu uns, wenn sie an eine Grenze stossen oder ein Schaden besteht, etwa, dass jemand verschuldet ist oder die Familie leidet. Betroffene können zum Beispiel aber auch von Schulen oder Therapeutinnen oder Therapeuten an uns empfohlen werden.

Wer kommt zu Ihnen?
Zu uns kommen vor allem Menschen mit Geldspiel-, Gaming- oder Social-Media-Problemen. Bei Geldspielen sind es vermehrt Jüngere, so Anfang 20, bei Onlineverhaltensstörungen ab 16 bis Mitte 20. Bei einer Hypersexualität, problematischem Pornografiekonsum oder Chemsex sind es eher Männer ab Mitte 20. Auch bei Sportwetten sind Männer in diesem Altern deutlich überrepräsentiert.

Es sind vor allem Männer?
Es sind eher Männer, die zu uns in die Behandlung kommen, was allerdings nicht bedeuten muss, dass nicht auch Frauen von Verhaltenssüchten betroffen sind. Wir wissen zum Beispiel von Befragungen, dass Frauen häufig ein problematisches Kaufverhalten aufweisen können. Zu uns in die Therapie kommen sie aber nicht. Warum das so ist, dafür haben wir noch keine abschliessende Erklärung. Ist etwa die Scham zu gross? Oder könnte es damit zusammenhängen, dass ein problematischen Kaufverhalten gesellschaftlich einfach weniger auffällt? Vieles lässt sich heute auch auf Kredit kaufen. In einem Casino hingegen fällt jemand sofort auf, es gibt auch Kontrollmechanismen.

Wie erklären Sie sich die Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Nehmen wir das Beispiel Hypersexualität. Hier lässt sich einiges neurobiologisch und evolutionär erklären: Männer reagieren intensiver auf sexuelle Reize. Aber natürlich spielen auch andere Faktoren wie etwa die Sozialisation eine wichtige Rolle.

Und (falsche) Vorbilder?
Jugendliche Männer und junge Erwachsene wachsen auch heute noch oft mit dem Bild auf, dass sie stark, unabhängig und wettbewerbsfähig sein sollen. Daraus beziehen sie ihren Selbstwert und sind dadurch anfälliger für Verhaltensweisen, die mit Status, Spezialwissen oder Erfolg verknüpft sind. Sie neigen ausserdem dazu, negative Emotionen externalisierend zu bewältigen. Aktivitäten wie exzessives Gaming, Pornografiekonsum oder Sportwetten dienen dabei der Ablenkung, der kurzfristigen Unlustvermeidung. Jungs wären besser beraten, langfristig hilfreichere Strategien zu entwickeln, um mit Negativem umgehen zu können.

Bei Gamern und problematischem Onlineverhalten beobachten wir übrigens einen einseitigen digitalen Entwicklungsprozess, der schwierig in die reale Welt zu übertragen ist.

Sie haben Sportwetten angesprochen. Wie hängt das zusammen?
Meiner Meinung nach sind sowohl die Marketingstrategien als auch die Geldspielprodukte in diesem Bereich klar auf junge Männer und Sportfans ausgerichtet. Insbesondere in Fussballclubs scheinen Sportwetten weit akzeptiert zu sein und eine frühe Prägung zu begünstigen. Die Verknüpfung mit Prestige, Spezialwissen und Taktik kann dabei schnell zu Kontrollverlust und hohen Schulden führen.

Wie sieht es bei jungen Frauen aus?
Weibliche Jugendliche und junge Frauen werden in meinen Augen stark in sozialen und emotionalen Kontexten geprägt, wobei für sie soziale Anerkennung und Gruppenzugehörigkeit eine zentrale Rolle spielen. Sie verknüpfen ihren Selbstwert häufiger mit sozialen Beziehungen und äusseren Erscheinungsmerkmalen, was sie wiederum anfälliger für exzessive Nutzung sozialer Medien oder Kaufsucht macht.

Gibt es kulturelle Unterschiede?
Ich denke schon. Uns berichten Betroffene, die in verschiedenen Gamingwelten – beispielsweise in China oder Japan sowie in der europäischen unterwegs sind, weil sie familiär beide Kulturen mitbringen –, von deutlichen kulturellen Unterschieden. Diese betreffen sowohl die Verbreitung bevorzugter Spiele,als auch den Umgang miteinander und die gesellschaftliche Akzeptanz des Gamings.

Das Gamen setzt auch Geräte voraus…
…ganz klar. Die entsprechenden Geräte, Internetverbindungen und alltäglichen Möglichkeiten, online zu sein, erfordern eine Infrastruktur und Lebensbedingungen, die ein solches Verhalten überhaupt ermöglichen. Das können wir auch bei unseren betroffenen Patientinnen und Patienten beobachten. Ich denke schon, dass insbesondere das Onlineverhalten stark durch den technischen und gesellschaftlichen Wandel geprägt wird. Allerdings haben heute praktisch alle ein Handy, und es gibt auch viele kritische Handygames, etwa solche mit Geldspielcharakter.

Wie stark sind die Hersteller für diese Entwicklung verantwortlich?
Viele Games und Apps sind sehr clever aufgebaut und haben das primäre Ziel, Nutzerin oder Nutzer daran zu gewöhnen und zu binden – und schliesslich etwas zu verkaufen. Die Produkte sind so gemacht, dass sie emotionsregulierend wirken, sie beeinflussen uns wie ein psychoaktives Produkt, wie etwa Alkohol. Und es ist für viele herausfordernd, sich diesem Sog zu entziehen und sich selber regulieren zu können – und zwar unabhängig von Geschlecht und Alter oder sozialer Herkunft.

Welche Rolle spielen familiäre, schulische oder soziale Faktoren bei der Entwicklung von Verhaltenssüchten?
Wir sehen bei den Verhaltenssüchten ein ähnliches Bild wie bei anderen Suchterkrankungen oder psychischen Störungen: Sie entstehen nicht isoliert, sondern im Zusammenspiel familiärer, schulischer und sozialer Faktoren. Daher ist Prävention so wichtig und muss ganzheitlich ansetzen, etwa durch das Vermitteln von einer bewussten Medienkompetenz, durch schulische Aufklärung über gesunde Nutzungsformen oder durch das Schaffen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die risikoreiche Verhaltensweisen nicht fördern oder normalisieren.

Wie wirken sich Krisen wie etwa eine Pandemie aus?
Die Pandemie stellte für Jugendliche und junge Erwachsene eine besondere psychosoziale Belastung dar, weniger aufgrund von Ängsten, wie sie in anderen Gesellschaftsschichten eine treibende Rolle spielten, sondern weil zentrale gemeinschaftliche Lebenswelten und Erfahrungen blockiert, verurteilt oder pausiert wurden – sowohl in beruflicher als auch in persönlicher Hinsicht. Diese Unterbrechungen führten zu enormem Stress, und Resilienzfaktoren gewannen an Bedeutung, um mit den Herausforderungen umzugehen. Die Auswirkungen der Pandemie sind deutlich spürbar, und die Berichte unserer Betroffenen zeigen, dass exzessives Verhalten in dieser Zeit in problematisches Verhalten umschlug.

Wo liegen für Sie als Therapeutinnen und Therapeuten die Herausforderung?
Süchte gab es schon immer. Heute definieren wir allerdings, einhergehend mit der rasanten technologischen Entwicklung, neue Formen von Süchten, auf die wir teilweise noch keine richtigen Antworten haben. Es ist unglaublich schwierig, das alles zu erfassen und adäquate Konzepte und Angebote zu entwickeln, also die richtigen Antworten darauf zu haben. Und wir können das nicht nur im lokalen, regionalen oder nationalen, Kontext sehen, sondern müssen das immer auch global im Blick haben.  

Wo müsste man Ihrer Meinung nach den Hebel ansetzen?
Die Politik und das Gesundheitswesen sind meiner Meinung gefordert, Verhaltenssüchte als gesamtgesellschaftliches Thema anzuerkennen – so, wie es beim Geldspiel bereits etabliert ist. Ein effektiver Hebel könnte in der fachlich abgestimmten Regulierung der Produktanbieter liegen, sodass relevante Plattformen nicht nur Risikogruppen in ihren Analysen erfassen, sondern auch ein verpflichtendes Sozialkonzept entwickeln. Beispielsweise müssten klare Mechanismen zur Regulierung von geldspielähnlichen Angeboten mit dem Ziel der Gewinnmaximierung etabliert werden, um exzessives und suchtgefährdendes Konsumverhalten nicht weiter zu begünstigen.

Und wo die Politik?
In Bezug auf Geldspiel existieren bei uns bereits gut etablierte Strukturen, die als Modell für andere Bereiche dienen können. Der Fokus liegt aus meiner therapeutischen Perspektive aktuell darauf, Problembereiche wie Sportwetten oder Online-Casinospiele zu beobachten und bestehende Strategien zu überprüfen oder anzupassen. Für viele andere problematische Verhaltensweisen fehlen vergleichbare Regelungen noch. Die nationale Suchtstrategie 2025 bis 2028 setzt hier an mit dem Ziel, Wissenslücken zu schliessen, Problembereiche frühzeitig zu erkennen und präventive sowie regulierende Ansätze zu entwickeln. Das unterstütze ich sehr.

* Martin Meyer hat in Basel Medizin studiert und ist seit 2020 Oberarzt an der Abteilung Verhaltenssüchte (VSS) der UPK Basel. Das VSS gehört zum Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen (ZAE).

Hintergründe über die Arbeit von Martin Meyer und seinem Team gibt auch der aktuelle Film «Raus aus der Online-Sucht – Dank Therapie zurück ins Leben» auf «NZZ Format» (mehr dazu in unserer News «Welcome back»).

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