«Daran müsste unsere Gesellschaft arbeiten»

Der forensische Psychiater und Klinikdirektor Henning Hachtel gibt Einblick in seine Arbeit.

Die forensische Psychiatrie ist ein relativ junges Fachgebiet in der Psychiatriegeschichte. Bei den UPK Basel gibt es die Klinik für Forensik (UPKF) seit 1997. Heute werden hier mehr als 30 stationäre Patientinnen und Patienten behandelt, dazu kommen – in der Deutschschweiz einzigartig – auch Jugendliche. PD Dr. Henning Hachtel*, Direktor der Klinik für Forensik, spricht im UPK-«Brennpunkt» über Hürden und Herausforderungen.

Henning Hachtel, wie kamen Sie zur forensischen Psychiatrie?
Henning Hachtel:
Mein Weg in die forensische Psychiatrie begann in der Sozialpsychiatrie. Bei der Verteilung von Behandlungen nach Artikel 63 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs – also der ambulanten Behandlung von psychisch kranken Straftätern – in der Runde, gab es immer ein langes Schweigen. Nachdem ich die ersten Fälle übernommen hatte, war es im Ambulatorium etabliert, dass «es der Hachtel» macht. Mit der Zeit faszinierte mich dieses Fachgebiet dann immer mehr.

Gibt es belastende Momente in Ihrer Tätigkeit?
Ja, die gibt es. Zum Glück kann ich die professionelle Distanz wahren. Das gelingt mir mal besser, mal weniger gut – je nach Tat. Eine Interaktion mit Exploranden und Klienten wie zum Beispiel Richterinnen und Richter beinhaltet aber auch immer menschliche Kommunikation. Man kann ja nicht nicht kommunizieren, wie schon Paul Watzlawick sagte. Alle stehen immer im Austausch – und dazu gehören auch Antipathie und Sympathie. Wichtig ist es, sich dieses bewusst zu machen. In einer gewissen Weise belastend kann es für mich auch sein, wenn es sich bereits in der Biografie eines Täters abzeichnet, dass er einfach nur schlechte Voraussetzungen für seinen weiteren Lebensweg hatte.

Wie stark sind zum Beispiel Umwelteinflüsse, soziale Normen oder genetische Dispositionen für Taten verantwortlich?
Delinquenz und normverletzendes Verhalten sind ein multifaktorielles Geschehen. Das muss immer sehr individuell von Fall zu Fall beurteilt werden. Es gibt genetische Einflüsse, krankheitsbedingte Faktoren, oder Sozialisationseffekte, aber oft auch situative Einflüsse. Jeder oder jede kann einmal in eine sehr schwierige Lebenssituation geraten.

Unterscheiden sich Taten und Täterprofile nach Kulturen und Zeitalter?
Es gibt je nach Zeitalter unterschiedliche Normen, die wir als Gesellschaft definieren. Im alten Rom war es zum Beispiel durchaus üblich, pädophile Handlungen vorzunehmen. Heute sind diese zu Recht unter Strafe gestellt. Bei grundsätzlichen und ganz und gar menschlichen Interaktionen sind allerdings ähnliche Tathergänge und Motivationen häufig wiederzufinden. Je nach technischem und kulturellem Fortschritt zeigen sich aber ganz neue «Taten» und Täterprofile. Man denke nur an Waffen oder Medien.

Welche Taten gibt es besonders häufig in der Schweiz? Vermögensdelikte wie zum Beispiel Diebstahl. Das war 2023 die nach dem Strafgesetzbuch am häufigsten angezeigte Straftatengruppe.

Gibt es für Sie eine Form der besonders schlimmen Tat?
Ja, wobei es schwierig ist, diese zu verallgemeinern. Eine Antwort könnte aber die bewusste Sexual- und Gewaltstraftat gegenüber Schutzbefohlenen sein, also eine Tat gegenüber Menschen, die wir eigentlich beschützen sollten. Oder eine sadistische Handlung, bei der der Täter ganz bewusst vorgeht.

Sie sind auch als Gutachter tätig. Wie gehen Sie an ein Gutachten heran?
Ein strukturiertes Vorgehen und sehr gute Aktenkenntnis vor der Exploration sind wichtige Komponenten. Mit der Zeit entwickelt sicher jeder Gutachter sein eigenes Vorgehen, was aber auf Grund der erfolgten Ausbildung und bestehenden Qualitätsvorschriften bei vielen Gutachtern vergleichbar ist. Ich versuche zudem, wie vermutlich alle meine Berufskolleginnen und -kollegen auch, einer zu beurteilenden Person möglichst neutral zu begegnen. Meine Aufgabe ist es ja auch, den Menschen, der eine Tat begangen hat, fair zu beurteilen. Gutachter oder Gutachterinnen erstellen lediglich eine Entscheidungsgrundlage für andere, wie zum Beispiel einem Gericht. Wir urteilen nicht, sondern liefern einen Puzzlestein.

In der Schweizer Kriminalgeschichte, gibt es da ein Verbrechen, in dem Sie als Gutachter gerne dabei gewesen wären?
Auch wenn es im Widerspruch zu meinen vorigen Antworten stehen mag: Der Fall René Osterwalder («der Babyquäler») ist ein Extrembeispiel und aufgrund der Interaktion mit seiner «Tatgenossin» sehr faszinierend.

Ein Gutachter oder eine Gutachterin schaut oft in die Abgründe der Seele, sieht die dunklen Seiten der Gesellschaft. Gibt es etwas, was Sie heute noch besonders berührt – und etwas, woran die Gesellschaft dringend arbeiten müsste?
Für mich ist es ernüchternd, wie häufig Täter über eine eigene Opfererfahrungen in der Vergangenheit berichten. Das mögen Schutzbehauptungen sein, aber die Vielzahl der Meldungen und die Evidenz stehen dem entgegen. Ich denke, wir müssten als Gesellschaft viel früher präventiv bei gefährdeten Kindern und in Familiensystemen tätig werden.

Soeben schlossen in dem von Ihnen mitgestalteten CAS «Psychiatrisch-Psychologischer Begutachtung im Strafrecht (PPBS)» an der Universität Basel die ersten Gutachterinnen und Gutachter ab**. Die Nachfrage ist gross. Wächst das Interesse an diesem Gebiet?
Das Interesse und die Faszination ist und war schon immer sehr gross. Allerdings wollen nicht viele in diesem Bereich letztlich arbeiten. Denn eine nochmalige Spezialisierung innerhalb der Psychiatrie, um dann mit doppelt stigmatisierten Patientinnen und Patienten zu arbeiten, die zudem häufig einen chronisch schweren Krankheitsverlauf haben, bietet nach anfänglicher Faszination vielleicht doch zu viele Hürden.

Denken Sie, eine Gutachterin geht anders an einen Fall heran als ein Gutachter?
Das ist eine interessante Frage: Vom methodischen Vorgehen sollten Gutachterinnen und Gutachter gleich an einen Fall herangehen. Die Interaktion mit dem Explorand und die Gesprächsführung sind zwar sehr individuell, aber meiner Meinung nach unabhängig vom Geschlecht. Mir sind jedenfalls keine geschlechterspezifischen Abweichungen bekannt.

*PD Dr. Henning Hachtel studierte an der Universität Leipzig und Valencia Medizin und ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit Schwerpunkt forensische Psychiatrie und Psychotherapie. Nach mehrjähriger Tätigkeit in der Forensischen Psychiatrie in Luzern und Bern wechselte Henning Hachtel im Jahr 2013 zu den UPK Basel. Es folgte ein Forschungsaufenthalt im Ausland, am «Centre for Forensic Behavioural Science (CFBS)» an der Swinburne University im australischen Melbourne.

** Erste forensische CAS-Gutachter: Mehr als zwanzig Studierende haben ihr Certificate of Advanced Studies (CAS) in «Psychiatrisch-Psychologischer Begutachtung im Strafrecht (PPBS)» erhalten, sechs davon aus den UPK. Der CAS «PPBS» wird von der Universität Basel unter der Trägerschaft der Medizinischen Fakultät angeboten. Vorsitzender der Studiengangskommission ist Prof. Marc Graf (bis Sommer 2024 Direktor der Klinik für Forensik UPKF), Co-Studiengangsleiter ist PD Dr. Henning Hachtel, der heutige Klinikdirektor der UPKF. Der Unterricht findet dezentral in verschiedenen forensischen Kliniken der Schweiz statt und sieht zudem Besuche in Justizvollzugseinrichtungen vor. Auch Gerichtsverhandlungen werden simuliert. Der nächste CAS ist für 2026 geplant. Interessiert? Unter diesem Link erfahren Sie mehr dazu.

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