Margit Proescholdt: Rund um Alkohol gibt es viele Meinungen. Ist ein Glas Wein am Tag nun gesund – oder jedes Glas für uns gefährlich?
Es kommt darauf an, was man unter gefährlich versteht. Gefährlich wird es spätestens dann, wenn der Konsum zu körperlichen, psychischen oder sozialen Problemen führt. Allerdings werden diese – mit Ausnahme der akuten Schäden bei einer Alkoholvergiftung – erst nach einer längeren Zeit des Konsums sichtbar. Das macht es für die Betroffenen schwierig, die Zusammenhänge zu erkennen – und zu reagieren. Man sollte sich aber immer bewusst sein, dass Alkohol ein Zellgift ist und nahezu jede Zelle im Organismus schädigt. Einen «gesunden» Konsum von Alkohol gibt es nicht.
Bislang wird zwischen risikoarmem und risikoreichem Konsum unterschieden. Wie verlaufen hier die Grenzen?
Als risikoarm für gesunde erwachsene Männer gelten höchstens zwei Standardgetränke Alkohol pro Tag, wobei ein Standardgetränk zehn Gramm reinem Alkohol entspricht. Und dies an maximal fünf Tagen die Woche. Und wenn ein Mann einmal mehr trinkt, dann höchstens fünf Standardgetränke. Für gesunde erwachsene Frauen gilt das gleiche, aber nur ein Standardgetränk pro Tag und maximal vier, wenn es ausnahmsweise einmal mehr sein sollte. Um die alkoholassoziierte Sterblichkeit zu mindern, gehen neuste Empfehlungen in der Schweiz für Männer und Frauen jedoch dahin, am Tag höchstens ein Standardgetränk Alkohol zu trinken.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht in ihren aktuellsten Empfehlungen noch einen Schritt weiter und hält fest, dass es keinen gesundheitlich unbedenklichen Alkoholkonsum gibt.
Dies mag zunächst irritieren, zumal es ja auch Studien gibt, in denen es heisst, dass kleinere Mengen an Alkohol sogar gesund wären und etwa zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos oder der Entstehung von Diabetes beitragen könnten. Solche Ergebnisse werden zwischenzeitlich jedoch zunehmend kritisch gesehen. Die WHO stützt sich in ihrer neusten Beurteilung auf eine «Lancet»-Studie aus dem Jahr 2021 – die den Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Krebserkrankungen untersucht hat – und kritisiert, dass zuvor der Zusammenhang zwischen Krebserkrankungen und Alkoholkonsum zu wenig berücksichtigt worden ist und der negative Einfluss von Alkohol auf Krebserkrankungen die potentiell positiven Einflüsse von Alkohol überwiegt.
Wie stark krebserregend ist Alkohol?
Alkohol wird heute mit mindestens sieben Krebsarten in Verbindung gebracht, etwa mit Krebserkrankungen des Verdauungstraktes, der Harnblase oder Brustkrebs bei Frauen. Und dabei steigt das Risiko mit der konsumierten Menge kontinuierlich.
Brustkrebs durch Alkohol?
Gemäss neusten Untersuchungen und gemäss der WHO wird die Hälfte der dem Alkohol zurechenbaren Krebsfälle in der Europäischen Region durch «leichten bis «moderaten» Alkoholkonsum – das heisst weniger als 1,5 Liter Wein oder weniger als 3,5 Liter Bier sowie weniger als 450 Milliliter Spirituosen pro Woche – verursacht. Dieses Trinkverhalten ist für einen Grossteil aller alkoholbedingten Fälle von Brustkrebs bei Frauen verantwortlich. Die höchste Prävalenz sehen wir hier in den Ländern der Europäischen Union. In den EU-Staaten ist Krebs die führende Todesursache mit einer ständig steigenden Inzidenzrate. Und gemäss WHO ist die Mehrheit aller alkoholbedingten Todesfälle auf verschiedene Krebsarten zurückzuführen.
Sind Sie für den vollständigen Verzicht?
Heute muss sich jede und jeder bewusst sein, dass es keine sogenannt sichere Alkoholmenge gibt. Man kann lediglich sagen: Je mehr jemand trinkt, desto schädlicher ist der Konsum. Der Alkoholkonsum ist in unserer westlichen Welt jedoch tief verwurzelt. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Alkohol in unserer Gesellschaft irgendwann keine Rolle mehr spielen wird. Aber wir sehen bereits ein zunehmendes Problembewusstsein in der Bevölkerung und eine stetige Abnahme des Konsums – was aus meiner Sicht als Ärztin sehr gut ist.
Gibt es auch Menschen, die auf Grund ihrer Geschichte und ihrer Genetik einfach in eine Alkoholabhängigkeit geraten müssen?
Nein, das verneine ich klar. Es wird aber immer vulnerable Gruppen geben, welche ein erhöhtes Risiko für schädlichen und abhängigen Konsum haben werden, sei es Alkohol oder seien es andere Drogen. Und es sind genau jene vulnerablen Gruppen, um die wir uns weiterhin und vermehrt kümmern müssen. Viele unserer Patientinnen und Patienten, die ich zu diesen vulnerablen Gruppen zähle, bringen sehr traurige und schwere Lebensgeschichten oder komorbide psychische Erkrankungen mit. Sie sind in jederlei Hinsicht schwer beeinträchtigt und haben einen hohen Leidensdruck.
Alkohol ist nicht nur kanzerogen, sondern versursacht auch andere Schäden. Welche?
Es wird unterschieden zwischen akuten sowie den Langzeit- oder Spätfolgen. Zu den Akutfolgen zählen Stürze, Knochenbrüche, Schädel-Hirn-Traumen, Bewusstseinstrübung mit der Gefahr von Aspiration Beeinträchtigungen im Strassenverkehr mit Eigen- und Fremdgefährdung, Zunahme von impulsivem Verhalten und vieles mehr. Auch häusliche Gewalt passiert oft unter Alkoholeinfluss.
Zu den Spätfolgen zählen körperliche Beeinträchtigungen wie zum Beispiel Leberschäden, kognitiven Funktionen (demenzielle Entwicklung), Blutbildveränderungen, Krebserkrankungen und psychische Erkrankungen, etwa Depressionen oder Suizidalität. Hinzu kommen soziale Schäden, wie etwa der Arbeitsplatzverlust oder Konflikte in Beziehungen.
Und der Mischkonsum?
Dieser ist besonders gefährlich, denn hier kommt es zu einer gegenseitigen Wirkungsverstärkung der eingenommenen Substanzen, so dass es bereits bei geringeren Mengen von Alkohol zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen kommen kann.
Alkohol als Bedrohung für den Einzelnen und als Gefahr für andere?
Alkoholkonsum führt bei steigenden Promillewerten zu einer Enthemmung und damit zu einer Abnahme der Impulskontrolle sowie der Frustrations- und Stresstoleranz. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung haben Menschen mit einem schädlichen/abhängigen Alkoholkonsum ein fünf- bis zehnfach erhöhtes Risiko, an Suizid zu versterben. Das Risiko ist besonders hoch unter Alkoholeinfluss, aber auch kurz nach einer Behandlung.
Alkoholkonsum kann aber auch zu einer Zunahme von fremdaggressivem Verhalten führen. Gemäss BAG ist Alkohol bei rund der Hälfte aller untersuchten Gewaltdelikte im öffentlichen Raum beteiligt, bei häuslicher Gewalt geschieht ein Viertel der Delikte unter Alkoholeinfluss. Zudem fühlt sich ein Grossteil der Bevölkerung im öffentlichen Raum durch alkoholisierte Fremde belästigt oder hat Angst vor ihnen. Der Kausalschluss von Alkohol auf Gewalt ist aber nicht zulässig, doch Alkohol ist sicherlich ein wichtiger und vermeidbarer Risikofaktor für Gewaltverhalten.
Kann eine Alkoholsucht jede und jeden treffen?
Prinzipiell ja, jedoch wird das Risiko für die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit massgeblich durch verschiedene bio-psycho-soziale Faktoren beeinflusst. Mindestens die Hälfte des Risikos beruht auf genetischen Faktoren, wobei die einzelnen Gene bislang nicht umfassend geklärt sind. Eine wichtige, genetisch bedingte Rolle spielt die Verträglichkeit. Wer die jeweilige Substanz besser verträgt, eine bessere Wirkung davon verspürt, hat ein grösseres Risiko, von der jeweiligen Substanz abhängig zu werden.
Dazu kommen psychische Risikofaktoren wie negative Erfahrungen in der Kindheit, psychische komorbide Erkrankungen, psychische Erkrankungen von Bezugspersonen, insbesondere auch Abhängigkeitserkrankungen, und soziale Risikofaktoren wie etwa ein Arbeitsplatzverlust oder Konflikte.
Wie wirkt sich Alkohol auf die psychische Gesundheit aus?
Alkohol ist eine sedierende und insbesondere deprimierende Substanz und beeinflusst die psychische Gesundheit in vielerlei Hinsicht. Besonders typisch ist die Entwicklung von depressiven Zuständen, aber auch von Angststörungen, Panikattacken und Schlafstörungen. Darüber hinaus hat Alkohol einen negativen Effekt auf letztlich alle psychischen Erkrankungen, seien es Schizophrenie, affektive Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Traumafolgestörungen, ADHS, oder demenzielle Syndrome.
Und ab wann hat jemand den Alkohol nicht mehr im Griff?
Es gibt verschiedene Screening-Instrumente, mit welchen man das Risiko des eigenen Trinkverhaltens einschätzen kann. Hellhörig sollte man werden, wenn einem das Umfeld eine hohe Trinkfestigkeit attestiert oder wenn man gesagt bekommt, dass man doch ein bisschen zu viel trinkt. Leider tut sich das Umfeld häufig schwer, offensichtliche Alkoholprobleme direkt anzusprechen.
Definitiv nicht mehr im Griff hat man den Alkoholkonsum, wenn man den Trinkbeginn und die Trinkmenge nicht mehr frei bestimmen kann (Kontrollverlust), immer grössere Mengen benötigt, um noch eine Wirkung zu verspüren (Toleranz), Entzugserscheinungen entwickelt (Entzug), trotz dem tiefen Wunsch, den Konsum zu sistieren, immer wieder einen hohen Druck verspürt, Alkohol zu konsumieren («Craving»), den Konsum trotz gravierender körperlicher, psychischer oder sozialer Schäden nicht mehr einstellen kann und der gesamte Alltag vom Konsum bestimmt wird. Das sind übrigens die Abhängigkeitskriterien. Sind drei dieser sechs Kriterien innert der letzten 12 Monate erfüllt, spricht man von einer Abhängigkeit.
Was macht Ihnen Sorgen, wo gilt es anzusetzen?
Dass wir noch keine Medikamente haben, die «Craving» noch effektiver als bisher reduzieren beziehungsweise den Kontrollverlust reduzieren können. Mehr als 20 Prozent der über 15-Jährigen in der Schweizer Bevölkerung haben einen risikoreichen Alkoholkonsum. Und die Gesamtzahl der alkoholabhängigen Personen wird auf 250 000 geschätzt. Bei rund einem Fünftel aller Menschen schliesslich, die 2022 in einer psychiatrischen Klinik behandelt wurden, war problematischer Substanzkonsum das Hauptproblem. «Last but not least» steht jede sechste psychiatrische Diagnose eines Hausarztes im Zusammenhang mit Alkohol.
Was bereitet Ihnen als Ärztin an den UPK Sorge?
Grosse Sorgen machen mir aktuell unsere Patientinnen und Patienten mit schwerster Alkoholabhängigkeit und bereits eingetretenen schweren körperlichen Folgeschäden. Besonders beelendend ist es für mich, wenn es sich dabei um junge Erwachsene handelt. Sie haben schon einen langen und schweren Leidensweg hinter sich – und auf Grund der Schwere ihrer körperlichen Erkrankungen eine bereits deutlich reduzierte Lebenserwartung vor sich. Grosse Sorgen machen mir auch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, welche exzessiv Alkohol konsumieren, oft auch in Kombination mit anderen Substanzen. Sie sind sich der Gefahren häufig gar nicht bewusst. Dieser Mischkonsum ist brandgefährlich! Immer wieder berichten Patientinnen und Patienten, dass «erst kürzlich jemand aus dem Bekanntenkreis an einer Überdosis verstorben sei». Das ist sehr schlimm.
Was bräuchte es ganz dringend?
Einen ganzen Fächer: Innovative Medikamente, die Verlangen und Kontrollverlust noch besser reduzieren, mehr ambulante Behandlungsplätze sowie weitere Massnahmen, um Problembewusstsein und Behandlungsbereitschaft in der Allgemeinbevölkerung zu stärken und die Stigmatisierung von Abhängigkeitserkrankungen zu reduzieren. Es braucht auch vermehrt innovative Konzepte und Ressourcen im Bereich der sozialen Unterstützung, etwa für Risikopersonen und -familien.
Sie behandeln immer mehr auch junge Menschen. Wie sehen Sie ihre Zukunft, was kommt auf diese Menschen zu?
Besonders traurig und besorgniserregend ist, dass viele der betroffenen jungen Menschen bereits schwer abhängig und vor allem auch psychisch und sozial sehr desintegriert wirken. Zudem birgt der chronisch risikoreiche Konsum ein erhebliches Risiko für die Entwicklung einer späteren Abhängigkeit. Die Zukunft für diese jungen Menschen ist also schwer. Das macht mir grosse Sorgen. Ein Lichtblick ist immerhin, dass der Pro-Kopf-Konsum von reinem Alkohol in der Schweiz seit Jahren in allen Altersgruppen kontinuierlich abnimmt.
*Dr. Margit Proescholdt hat an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität in Frankfurt am Main (Deutschland) Humanmedizin studiert. Es folgte die universitäre Weiterbildung zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie für Psychiatrie, Psychosomatik am Bezirksklinikum in Regensburg. Seit 2008 ist Margit Proescholdt Oberärztin und seit 2022 Leitende Ärztin am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen (Abteilungen «Entzug» und «Entwöhnung») der UPK.